Digitaler Zwilling: Virtuelles Modell mit viel Potential

Bereits seit mehreren Jahren besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen BAYER und LESER. Im Rahmen dieser Kooperation wird unter anderem seit längerem das Projekt Digitalisierung und Einsatz digitaler Zwillinge in der deutschen Prozessindustrie vorangetrieben.

Vor dem Hintergrund, dass sich derzeit diese Themen noch in der Entwicklung befinden und bislang keine Industriestandards verfügbar sind, wird in dieser Zusammenarbeit Pionierarbeit geleistet. Im Digital Data Chain Consortium (DDCC) werden gemeinsam mit den weiteren Mitgliedern aus der Prozessindustrie Standards und Technologien erarbeitet.

Welche Ergebnisse wurden bereits erreicht? Welche Ziele werden als nächstes angestrebt? Welche Hürden gilt es zu überwinden? In diesem Interview erfahren Sie mehr über die beiden Perspektiven - die des Anlagenbetreibers und die des Herstellers.

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Die Interviewpartner sind:

Marc Westphal
Subject Matter Expert für technisches Asset Management und techn. Materialwirtschaft
Bayer AG, Division Crop Science, Standort Dormagen

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Hendrik Wormuth
Manager Product Sales Solutions
LESER GmbH & Co. KG.

Wo steht Ihr Unternehmen bei der Digitalisierung?

Marc Westphal, Bayer
Kurz und knapp: „Wir sind mittendrin!“ … Die Digitale Transformation ist für uns ein allgegenwärtiges Thema. Bei Bayer hat die digitale Transformation eine hohe Priorität und die Aufmerksamkeit des Topmanagements. Dazu werden cross-divisionale Initiativen durchgeführt. Ein globales Beispiel ist unser CORE-Projekt. Ein mehrjähriges Business getriebenes und IT unterstütztes, strategisches Projekt für die Transformation unserer End2End-Prozesse. Dabei verfolgen wir das Ziel den Customer Value zu erhöhen. Wobei wir hier die Kunden sowohl extern als auch intern sehen.

Die einzelnen Divisionen – hier beispielsweise Crop Science, haben eigene Schwerpunkte bei den Digitalisierungsprojekten. Allen zu eigen ist dabei das Ziel: Transparenz zu schaffen, Prozesse zu optimieren und Verschwendung zu vermeiden.
Bei Bayer in Dormagen laufen derzeit 18 explizite Projekte zur Digitalisierung. Dabei werden die Bereiche Produktion, Technologie, Logistik und Beschaffung tangiert.

Im Bereich des technischen Assetmanagements am Standort befassen wir uns gegenwärtig mit der digitalen Abbildung unserer technischen Anlagen und Einzelgeräte in Form eines Digitalen Zwillings. Das umfasst alle Facetten und Datenströme über den gesamten Lebenszyklus. Von der Planung der Anlage und Konstruktion erstreckt sich der Umfang über die Inbetriebnahme und Instandhaltung bis hin zur Außerbetriebnahme und Demontage. In diesem Zusammenhang stehen wir vor den Herausforderungen, dass es noch keine, von der Industrie flächendeckend gelebten Standards gibt. Nach Jahren der Schlagworte „Industrie 4.0“, „Internet of Things (IoT)“ und „Verwaltungsschale (AAS)“, ist hier noch Luft nach oben.

Das sehen wir auch in den unterschiedlichen Ansätzen der Hersteller, der Service Provider und auch bei uns als Betreiber. Entsprechende Interessengruppen und Konsortien, wie die NAMUR, das Digital Data Chain Consortium (DDCC) oder die Industrial Digital Twin Association (IDTA) bieten hilfreiche Unterstützung zur Standardisierung von Prozessen, Datenmodellen und Tools.

Hendrik Wormuth, LESER
Bei LESER haben wir ein Programm mit dem Titel „LESER ist Digital“ ins Leben gerufen. In diesem analysieren wir mit allen internen und externen Anwendern Chancen durch den Einsatz der neuen Technologien. Dazu haben wir die verschiedenen Facetten der Digitalisierung in „Digital Workstreams“ eingeteilt.
Ich persönlich bin für den Digitalen Zwilling verantwortlich. Wie Herr Westphal ausgeführt hat, gibt es hier unterschiedliche Ansätze. Bisher sind diese nicht flächendeckend im Einsatz, aber wir arbeiten gemeinsam mit Partnern wie der BAYER AG an der Marktreife.

Wie definieren Sie den Digitalen Zwilling?

Marc Westphal, Bayer
Ein Digitaler Zwilling ist eine vollständig digitale Repräsentation eines identifizierbaren Gegenstands. Also eine Entität, die den Gegenstand nicht nur in seinem aktuellen Zustand darstellt, sondern auch historische Daten beinhalten kann – beispielsweise über den gesamten Lebenszyklus. Die Darstellung von Verknüpfungen zu anderen Digitalen Zwillingen ist ebenfalls möglich.
Auch wenn die erste Definition des Begriffs „Digitaler Zwilling“ schon gut zwanzig Jahre zurückliegt und seit fünf Jahren ein Top-Thema in der Wirtschaft ist, können wir erst jetzt die Potenziale erschließen. Hilfreich sind offene Plattformen und Industriestandards, wie die Asset Administration Shell, kurz AAS. Diese ermöglichen als Verwaltungsschale erst die Umsetzung von Digitalen Zwillingen.

Leider wirkt die Definition der Verwaltungsschale technisch komplex und schreckt Unternehmen davon ab die industrielle Digitalisierung voranzutreiben.
Für eine Vereinfachung bieten sich zwei Ansätze
Der theoretische Ansatz definiert den Digitalen Zwilling auf Basis von bestimmten Reifegraden über den Produktlebenszyklus. Hier werden unterschieden, wie ein Objekt konstruiert wurde („as engineered“), wie es gebaut wurde („as built“) und schließlich, wie es gewartet wird („as maintained“). In jeder der Reifegradstufen stehen mehr bzw. zusätzliche Informationen zur Verfügung, die mit dem Objekt digital verknüpft sind. Brechen wir das auf die Sicherheitsventile von der Firma LESER herunter, hätten wir mit Auslieferung an uns als Kunden einen Digitalen Zwilling in der kleinsten Stufung mit Reifegrad „as built“, der neben den Informationen zur Fertigungsstückliste (MBOM) auch Informationen zu Ersatz- und Verschleißteilen beinhaltet. Liefert uns LESER auch Informationen zur Instandhaltung, haben wir einen Reifegrad „as maintained“.

Interessanter für die Industrie, weil pragmatischer, ist die Umsetzung des Digitalen Zwillings entlang der möglichen Ausprägungsformen „Asset-Twin“, Product-Twin“ und „Line-Twin“. 
Hierbei legen wir einen größeren Wert auf die Anwendung und die Verknüpfung (Kollaboration) des Digitalen Zwilling zwischen diversen Partnern. Der „Asset-Twin“ auch Stammdaten- oder Informations-Zwilling genannt, ist die erste und einfachste Zusammensetzung. Eine reine, digitale Abbildung der Entität, wie Sie produziert und ausgeliefert wurde. Diese Ausprägungsform ermöglicht mit den zusammengetragenen Informationen aus Stammdaten, Dokumenten, CAD-Unterlagen, Stücklisten, neue Anwendungsfälle. Beispiele sind das digitale Typenschild bzw. der ID-link.

Die erste Ausbaustufe, der „Product-Twin“ ermöglicht mit zusätzlichen IoT-Daten (von Sensoren und Reglern) auch Chancen für vorausschauende Wartung. Die höchste Ausbaustufe, der „Line-Twin“, ermöglicht durch die Verknüpfung aller Digitalen Zwillinge einer Prozesslinie die Simulation von Prozessen. In Bezug auf die Ausprägungsform des Digitalen Zwilling beschäftigen wir uns aktuell mit dem „Asset-Twin“. Mit der Firma LESER zusammen haben wir alle nötigen Informationen zur digitalen Darstellung der Stammdaten von Sicherheitsventilen abgestimmt. Dabei nutzen wir auch Industriestandards wie ECLASS und die VDI2770. So ist die Grundlage zur Nutzung in einer Informationsplattform gelegt mit der zukünftig ein „Digital Product Passport (DPP)“ erzeugt und genutzt werden kann.

Hendrik Wormuth, LESER
Technisch ist den Ausführungen nicht viel hinzuzufügen. Ich möchte betonen, dass die Kooperation zwischen den Partnern der Schlüssel zum Erfolg ist. Der vollständige digitale Zwilling besteht aus vielen Bestandteilen. Wir als Hersteller von Sicherheitsventilen halten einen Teil der Daten in unseren Händen wie zum Beispiel die Betriebsanleitungen und Zeugnisse. Der Betreiber hat Daten zum Verhalten des Sicherheitsventils in der Anwendung. Der Wartungsbetrieb kann Verschleißteile und Standzeiten beitragen. Diese Parteien auf eine Lösung zu vereinigen und diese branchenweit einsetzbar zu halten ist eine große koordinative Aufgabe. Aber sie zu lösen wird sich lohnen.

Der Digitale Zwilling ist eine viel diskutierte neue Technologie, ihm werden Zukunftschancen vorausgesagt. Wie ist Ihre Einschätzung?

Marc Westphal, Bayer
Wie schon vorher erwähnt, stellt der Digitale Zwilling einen Schlüssel für alle Digitalisierungsprojekte dar. Die Zusammenführung aller relevanten Informationen (Merkmale, Zustände) über den gesamten Lebenszyklus ist ohne ihn nicht möglich. Das Potenzial des Digitalen Zwilling ist dementsprechend groß. Seine wahre Größe wird sich erst entfalten, wenn er kollaborativ zwischen Hersteller, Betreiber und Service Provider genutzt wird. Dafür müssen primär einheitliche Datenstandards geschaffen werden – wie die o.g. AAS. Auch weitere Aspekte der Datensouveränität müssen geregelt werden.

Wenn dieses im Zusammenspiel zwischen den Partnern in geregelten Bahnen läuft, stehen neuen, zusätzlichen Services entlang des Lebenszyklus der Objekte Tür und Tor offen. Auch sind Optionen für semantische Netzwerke auf Basis der verfügbaren Informationen keine Utopie. Der Einsatz von AI ließe sich mit dem Digitalen Zwilling – als Grundlage – auch effizient vorantreiben.

Hendrik Wormuth, LESER
Wir sind auch davon überzeugt, dass der strukturierte Zugang zu Nutzungsdaten uns in die Lage versetzt, besser angepasste Produkte zu entwickeln und unsere Kunden besser zu beraten. Es wird möglich sein, durch den Nachweis der Leistungsfähigkeit von im Einsatz befindlichen Sicherheitsventilen anwendungsbezogene Empfehlungen für Produkte zu geben.

In Zukunft werden unsere Kunden zu jeder Zeit und von jedem Ort aus Zugang zu allen Informationen über ihre Sicherheitsventile haben. Nicht zuletzt handelt es sich bei der eindeutigen Kennzeichnung auf dem Typenschild auch um eine maschinenlesbare Kennung, die sich als ID durch die gesamte Dokumentation zum Sicherheitsventil zieht. 

Welche Hürden sehen Sie und wie wollen Sie diese überwinden?

Marc Westphal, Bayer
An vielen Stellen sprechen wir leider immer noch von Theorie.
Wie und was definieren wir im Zusammenspiel der Partner als „Digitalen Zwilling“? Auf welcher Basis baut dieser auf? Ist der Zwilling interoperabel? Wie wird die nötige Datensouveränität ermöglicht?
Dazu kommen leider auch system- und datentechnische Hürden der IT-Systeme – besonders der Informationsaustauschplattformen im Zuge der Kollaboration.

Um diesen Hürden zu begegnen haben sich für uns folgende Aspekte herauskristallisiert:
Ein partnerschaftlicher und vor allem offener Umgang mit allen Stakeholdern (Hersteller, Betreiber, Service Provider, Plattformbetreiber). Nur wenn wir untereinander Rahmenbedingungen und Anforderungen gleichermaßen verstehen, haben wir eine Chance auf eine effektive und nachhaltige Lösung.
Der gemeinsame Austausch in Gremien (u.a. den zuvor genannten) unterstützt das Finden von breit anwendbaren Lösungen. 
Nicht zuletzt ist das Einbeziehen der Anwender in die Entwicklungen – vor allem in Bezug auf die möglichen neuen Services und die E2E-Prozesse wichtig. Mit ihnen gemeinsam werden Use Cases und User Stories gestaltet.

Hendrik Wormuth, LESER
Niemand kann diese Aufgaben effizient für sich allein lösen. Selbst wenn die BAYER AG und LESER zu zweit eine Lösung erarbeiteten, wäre diese nicht massentauglich. Hersteller anderer Produkte und andere Betreiber hätten Probleme bei der Anwendung. Kurz gesagt wir hätten nur eine Insellösung mit begrenztem Nutzen.

Welche Erwartungen haben Sie an einen Digitalen Zwilling im Prozessablauf und der Wartung der Sicherheitsventile in den Anlagen?

Marc Westphal, Bayer
Wir haben den Anspruch, immer den aktuellen Stand der verbauten und als Reserve vorgehaltenen Sicherheitsventile systemseitig sehen zu können. Der Digitale Zwilling unterstützt uns darin, einerseits alle technischen Attribute zu sehen, andererseits auch in der Nachverfolgung von Änderungen und Reparaturen an den Sicherheitsventilen durch Dienstleister. Der Dienstleister hat dabei die Pflicht, in der Informationsaustauschplattform Änderungen zu erfassen und dem Betreiber zur Verfügung zu stellen.
Zur Verwaltung der Lagerbestände und im Zuge des Engineerings bietet der Digitale Zwilling eine Basis für Standards auf Betreiberseite dar. 

Hendrik Wormuth, LESER
Wir möchten gerne wissen, wie wir unsere Produkte noch langlebiger machen können. Was sind typische Schadensbilder in bestimmten Anwendungen? Bei welchen Betriebsweisen sind die Standzeiten besonders hoch oder gering? In welchen Phasen des Betriebs nehmen die Sicherheitsventile schaden?

Welche Chancen ergeben sich mittel- und langfristig aus der Digitalisierung für das Zusammenspiel von Bayer und LESER Sicherheitsventil?

Marc Westphal, Bayer
Die digitale Kollaboration zwischen Hersteller, Betreiber und Service Provider wird automatisiert. Dadurch haben alle Beteiligten jederzeit Zugriff auf die Informationen, die sie zum jeweiligen Zeitpunkt im Lebenszyklus des Assets benötigen.

Für die Zukunft sehen wir hier vor allem eine deutliche Zunahme des Datenaustauschs unter den Stakeholdern. Hier werden sich zusätzliche, innovative Services ergeben. Gerade die Zustandsüberwachung der Anlagenbestandteile im Feld wird Service Providern ermöglichen neue Serviceleistungen zu erbringen. Hersteller erhalten zur Produktentwicklung relevante Daten direkt aus der Anwendung.

So können Hersteller die Haltbarkeit von Produkten und die Vorhersagegenauigkeit für den Austausch verbessern.

Wie sehen die nächsten Schritte Ihrer Digitalisierungsstrategie aus?

Marc Westphal, Bayer
Auf das Zusammenspiel mit der Firma LESER bezogen werden wir den „Asset-Twin“ aus der Pilotphase zeitnah in die Phase „steady state“ überführen und danach weiter optimieren. 
Auf Basis der Erfahrungen dieser Pilotierung, werden wir Produkte weiterer Hersteller und Service Provider in die Informationsaustauschplattform einbinden und die Kommunikation auf Basis des „Asset-Twin“ etablieren. 
Im Zuge der Gremienarbeit werden wir uns mit der Firma LESER für die Weiterentwicklung und Nutzung der AAS einsetzen. Damit bringen wir die Standardisierungen in Bezug auf den Digitalen Zwilling unter Gesichtspunkten der Digital Data Chain (DDC) voran.